Tageszeitung „Der Patriot“ vom 5. Juni 2023 / Marcus Kloer
Begeisternd war es zu erleben, mit welcher Spielfreude sich die Schülerinnen und Schüler der Oberstufen-Literaturkurse in ihre Rollen hineinversetzten, als sie am vergangenen Freitag am Friedrich-Spee-Gymnasium mit dem Stück „Die Physiker“ Premiere in der Alten Aula feierten.
„Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. … In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff“, sagt der Wissenschaftler Möbius in Friedrich Dürrenmatts Bühnenklassiker und beschreibt damit die Frage, welchen Gefahren von neuen Erkenntnissen der Wissenschaft und entwickelten Technologien ausgehen.
Die Oberstufen-Literaturkurse des Rüthener Friedrich-Spee-Gymnasiums inszenierten das Stück mit einer begeisternden Premiere und waren mit der Thematik wohl ähnlich aktuell wie vor gut 60 Jahren, als Dürrenmatt sein Werk vor dem Hintergrund des Kalten Krieges geschrieben hatte. Barg seinerzeit schon die Atomwissenschaft unabsehbare Risiken, wird heute beispielsweise auch Künstliche Intelligenz als ein schwer einschätzbarer Zukunftsfaktor gesehen.
Wer ist verrückt, wer nicht?
Die Friedrich-Spee-Schüler nahmen das Publikum in dem Zweiakter entsprechend mit den Worten Dürrenmatts auf eine gedankliche Reise und ließen die augenscheinliche Komödie die beabsichtigte tragische Wendung nehmen.
Da sind die drei Physiker Beutler, Ernesti und Möbius, die ins Sanatorium von Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd (gespielt von Lotta Schulenberg) eingewiesen wurden. Während Ernesti (Klara Schulte) vorgibt, Einstein zu sein, hält Beutler (Kaja Erbuth) sich mutmaßlich für Isaac Newton. Der dritte ist Johann Wilhelm Möbius (Paul Hötte), der von seinen Erscheinungen König Salomos berichtet. Nacheinander bringen die drei Physiker ihre Krankenschwestern um.
Während Kriminalinspektor Richard Voß (Hermann von Fürstenberg) nach dem zweiten Mord, mit dem das Stück beginnt, noch engagiert nach dem Mörder sucht, haben sich im zweiten Akt die Vorzeichen umgekehrt – der Kommissar hat sich nach dem dritten Mord mit den besonderen Umständen im Irrenhaus abgefunden, geht gelassen vor und spricht statt eines Mörders nur noch von einem Täter.
Parallel beginnt das Publikum zu verstehen, dass die drei Physiker in Wirklichkeit nicht verrückt sind. Einstein und Newton haben bedeutende Erfindungen gemacht und versuchen als Geheimagenten ihrer Länder in dem angedeuteten Ost-West-Konflikt die noch bedeutendere Weltformel von Möbius in ihre Hände zu bekommen. Der ist sich der Macht und Gefahr seiner Erfindung bewusst und versucht, sich und sein Wissen in dem Irrenhaus von der Welt fernzuhalten. Dafür hat er seine Familie, Karriere und Freiheit aufgegeben und war sogar bereit, Schwester Monika Stettler (Valerie Horstschäfer) zu ermorden, weil die ihn liebte und seinem Geheimnis auf der Spur war.
Die grotesken Zusammenhänge, Ironie und Absurdität von Szenerie und Handlung holten den Zuschauer aus seinem Alltag ab und ließen ihn überrascht nachdenken. Neben der Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft konnte das auch weiter gehen, bis zur Determiniertheit menschlichen Handelns. Die Schuldfrage lässt zwischen Moral, Vernunft und Verantwortung suchen.
In der Inszenierung treffen die Oberstufenschüler die Intention Dürrenmatts beeindruckend ausdrucksstark und arbeiten unter der Regie der Lehrer Andreas Dierkes und Christian Kühle manch weiteres Detail pointiert heraus. Exemplarisch das Klavierspiel, das im Hintergrund erklingt, wenn nach den Morden absurd banal musiziert wird. Oder der Ausspruch der Ärztin „Für wen sich meine Patienten halten, entscheide ich“, als eine Parodie auf ein Zitat Görings über Juden.
Am Ende entschließen sich die drei Physiker, auch wenn sie nicht verrückt sind, in dem Irrenhaus zu bleiben, um die Welt vor ihrem Wissen zu schützen und ihre Morde zu sühnen. „Entweder haben wir geopfert oder gemordet. Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt wird eines“, sagt Möbius, ehe das Stück noch eine tragische Wendung nimmt. Die Anstaltsleiterin ist nämlich selbst irre, hat Möbius Aufzeichnungen für eigene Zwecke genutzt und die Tarnung der Physik auffliegen lassen.
Die Besetzung der Rollen in dem gymnasialen Ensemble ist durchweg gelungen, ausdrucksstark von den Nebenrollen bis zu den Figuren der Hauptdarsteller, die sich in Sprache und Gestik bis hin zu körperlicher Anspannung in den Monologen einfühlsam in ihre Rollen hineinversetzen.
Hötte redet sich als Möbius in Rage
Ein Paradebeispiel liefert Paul Hötte in der Szene, als Möbius seine Familie bei einem Besuch in der Anstalt endgültig vergraulen will. Auf dem umgedrehten Tisch sitzend, steigert er sich bei seinen Schilderungen der Erscheinungen des Königs Salomo in Rage bis nahe an den Wahnsinn.
Am Ende wurden die Schauspieler und auch die Akteure im Hintergrund mit lang anhaltendem Applaus des begeisterten Publikums belohnt.