Symbol einer zerbrochenen Welt
Adam und Lich
Warum sperrst du nicht die Augen auf? Die Augen auf! Ich hatt sie aufgesperrt. Der Satan warf sie mir voll Sand.
Adams hämische Frage und Ruprechts naive Replik bezeichnen das abgründige Spiel um den zerbrochenen Krug in Kleists Komödie. Im Wahrheit will Adam um jeden Preis die Aufdeckung der Wahrheit verhindern, weil er davon ausgeht, daß die Wahrheit erst dann zur Wahrheit wird, wenn sie ans Licht kommt. Adams Preis ist sein Fall, sein Sündenfall, der bereits geschehen ist und erst recht durch einen Prozeß, bei dem er selbst den Vorsitz führt, nicht ungeschehen gemacht werden kann.
 
Adam
Eine schwierige und herausfordernde Rolle für Danny Lattrich als Dorfrichter Adam. Er spielt virtuos auf der Klaviatur menschlicher Schwächen und der komisch-grotesken Versuche, sie zu vertuschen. Und wenn er danebengreift, scheint sich ihm sogleich eine andere Taste anzubieten, die den Mißton in Harmonie auflösen soll, bis am Ende sich doch bestätigt: Nichts ist so fein gesponnen, es kommt ans Licht der Sonnen. Einmal abgesehen davon, daß Adams Fäden nicht besonders fein gesponnen sind, auch wenn er den Strohhalm, an den er sich klammert, für den rettenden Balken hält. Und genau damit macht das raffinierte Spielen Danny Lattrichs den Zuschauer sehend, sperrt ihm die Augen auf: Die Komik des Dramas erzeugt nicht sein Gegenstand, der ist ernst genug (der Gegenstand ist die das Sein erschütternde, es vernichtende Kant- und Erkenntniskrise des jungen Heinrich von Kleist). Es ist die Perspektive, mit der die Wirklichkeit gesehen, als erkannt geglaubt wird und doch nur eine dünne Oberfläche erfaßt, die das Geschehen ins Komische wendet. Das belegt auch Ruprechts Antwort auf die Frage des Dorfrichters. Es war nicht nur der Satan mit dem Pferdefuß der Vater der Lüge, die ihm Sand in die Augen streut und - für eine Weile jedenfalls - blind gemacht hat für die Wahrheit. Es war auch der Schwellfuß Ödipus, der, indem er der Wahrheit entfliehen wollte, ihr in die Arme lief. Ein Vorgang, der nicht der Komik entbehrt, der aber das tragische Moment nicht aufhebt oder abschwächt, sondern das Lächerliche einer verzerrten und verzerrenden Sicht der Wirklichkeit enthüllt, den lächerlichen Versuch, einem obwaltenden Schicksal zu entrinnen, was nur in schweißtreibenden Verkrampfungen enden kann, die Danny Lattrich so überzeugend vermittelt.
 

Ganz anders der bieder-bäuerliche Ruprecht. Holger Hötteke beweist ein feines Gespür für die in dieser Figur angelegte Komik. Sie kommt nicht aufgeblasen daher, sondern als natürliche Komik des Naiven, Einfachen, die zwar auch eine Form der Verblendung ist, aber ziemlich unspektakulär im Vergleich zu Adam in die Art richtigen Sehens übergeführt werden kann: Heut streust du keinen Sand mir in die Augen (11. Szene).
 
Hermann Bertling rückt Kleists Komödie ins Zentrum seines Werkes, wo sie auch hingehört. Kleist selbst nannte sie eine Tinte meines Webens, während einige Kritiker die Intensität, das Gewaltige und Gewaltsame vermißten, das die Werke eines Kleist sonst auszeichnen. Es ist nicht zufällig, daß Kleists berühmter Aufsatz über das Marionettentheater etwa zur gleichen Zeit entstand wie Der zerbrochene Krug. In beiden Werken geht es um den Sündenfall Adams und Evas, um den Verlust der göttlichen Naivität, den Verlust der Grazie, um die innocence perdue, die verlorene Unschuld. Die Menschen können ihrem Drang nach Erkenntnis nicht widerstehen. Und wenn sie merken, was sie sich damit angetan haben, tun sie alles, um ins Paradies zurückzuflüchten, sie strampeln sich ab bei solchen Versuchen und bleiben häufig genug in furchtbarer Komik stecken, die paradoxerweise zunimmt mit zunehmendem Wissen des Betrachters.
 
Frau Marthe
Davon - vom zunehmenden Wissen - bleibt Frau Marthe, die Urheberin des Geschehens, ganz unbehelligt. Sie kann im zerbrochenen Krug, dem Symbol einer zerbrochenen Welt bzw. einer gebrochenen Perspektive auf die Wirklichkeit, nur einen funktionsunfähigen Haushaltsgegenstand entdecken. Sie will eine Entscheidung des Gerichts, ein eindeutiges Urteil, und sie will Entschädigung und Ersatz. Regina Heppe als Frau Marthe demonstriert mit eindrucksvoller Selbstsicherheit und Selbstverkennung die ganze Unzulänglichkeit ihres Bewußtseins in einem langen, geschwätzigen Vortrag, der den Zuschauer die Geschichte des Kruges die unerläßliche Reise um die Welt tun läßt, die sie selbst nicht antreten kann. Wenn es um wirkliche Aufklärung, um Fortschreiten von Erkenntnis geht, muß Frau Marthe mit offenem Munde dastehen - und schweigen. Regina Heppe hat der Frau Marthe alles gegeben, was die Rolle braucht: die angestrengte, laut und schrill dargebotene Energie der Ahungslosen, den ausgestreckten Zeigefinger, der den Schuldigen schon vor Prozeßbeginn ausfindig gemacht hat.
 
Licht
Zu den Sehenden und Wissenden gehört der Schreiber Licht - er glaubt vielmehr zu ihnen zu gehören. Es ist Jens Farkes Verkörperung der Rolle zu verdanken, daß da jemand auf einem überhöhten Sitz thront, der sich für einen Primus hält und doch kein Primat werden kann. Er bleibt, obwohl er Licht ins Geschehen gebracht hat, der affige, buckelnde, überlegen grinsende Subalterne, der nicht Wahrheit sucht, der sein Wissen, das Licht der Vernunft verrät, indem er es einsetzt, um sich auf Kosten anderer zu profilieren, ein gutdotiertes Amt zu ergattern. Jens Farke gestaltet den Wicht schlechthin, der sich wichtig nimmt, um dann am Ende sang- und klanglos übergangen zu werden, ein wahrer -ling: Ein Schreiberling, ein Winzling, der ein paar gestelzte Hüpfer tut und sich zutraut, damit die Welt aus ihrer Schieflage zu retten. Schiller hätte ihn Wurm genannt. 
 
Walter und Adam
Den eigentlich Wissenden verkörpert Uwe Lammert in der Rolle des Gerichtsrates Walter, dessen Name schon auf den Obwaltenden des Geschehens verweist, auf den apollinischen Geist, im Gegensatz zum dionysisch angelegten Dorfrichter. Uwe Lammert gelingt es, die Strenge des Aufklärers, die Würde des Amtsträgers, der nicht unbedingt eine Perücke braucht, und die Gelassenheit dessen, der das Leben und die Menschen kennt, in eine Person einzubinden, ihr das zu geben, was Goethe eine Gestalt nennt. 
 
Eve
Das ist auch Elena Dainottis Eve, zwischen Selbstbewußtsein und Scheu angelegt, die sich einschüchtern läßt von einem polternden Richter Adam und einer so bestimmt auftretenden Mutter. Eve überwindet im entscheidenden Moment, wenn es der Wahrheitsfindung dient, ihre Schüchternheit und rückt die Dinge zurecht, weil die Geradheit ihres Wesens so verläuft.
 
Frau Brigitte
Daß die Wahrheit schlicht ist, macht Eva Meyer als Frau Brigitte eindringlich klar. Ihr Auftreten ist leise, etwas umständlich, was die Rolle verlangt, aber bestimmt. Sie läßt sich nicht beirren. Eva Meyers Spiel setzt sich ganz bewußt in Gegensatz zum Auftreten des Dorfrichters und der Frau Marthe, so daß die Wahrheit Schritt für Schritt ans Licht kommt, daß sie herrschen muß, sich aber von niemand beherrschen läßt.
 
Büttel
Zum Szenario der komischen Figuren zählen noch der Bauer Veit Tümpel (Holger Bertling), der Büttel (Christoph Happe) und die beiden Mägde Margarethe und Liese (Claudia Thomas, Jessica Meier), keine Randfiguren, auch sie dienen auf ihre Weise der Wahrheitsfindung, auch wenn ihr Beitrag auf den ersten Blick reichlich unbeholfen erscheint. Aber, so lehrt es die Erfahrung, Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.
Mägde
 
Bühnenbild
Die Welt ist eine Bühne, die schäbige Bude eines Dorfrichters in der Provinz kann die Welt spiegeln, verdichten, sie entlarven mit heiterer und bitterer Komik - eine Komik allerdings, die die Menschen nicht auszieht, nicht bloßstellt und ihnen nicht die Würde nimmt, es doch letztlich immer gnädig mit ihnen meint, auch wenn der Hoffnungsschimmer in Kleists Werken häufig nur noch in einem dürftig scheinenden als ob-Satz zu fassen ist.
Der Regisseur Hermann Bertling und die Theatergruppe Spectaculum haben sich wieder einmal einer großen Herausfoderung gestellt und sich an ein schwieriges, anspruchvolles Werk herangewagt. Wer wagt, gewinnt. die Aufführung von Der zerbrochene Krug war ein Gewinn für ein aufgeschlossenes Publikum und für ein hochmotiviertes, engagiertes Ensemble, das Kleists Botschaft an die Welt, Eves entrüsteten Zuruf an Ruprecht, Du hättest denken sollen: Er ist brav, unterhaltend und mehr noch anhaltend ins Spiel brachten.
Karl-Heinz Knüwe

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